Zoos starten Zuchtprojekt zugunsten bedrohter Nutztierrassen
– Tierpark Nordhorn in Vorreiterrolle

Nordhorn/Berlin/Hannover, 14. September 2020. Artenschutz der anderen Art: Die Mitglieder des Verbandes der Zoologischen Gärten bündeln künftig ihre Kräfte, um einheimische Rinder, Ziegen und Schweine vor dem Aussterben zu bewahren. „Viele Menschen denken beim Artenschutz zuerst an Wildtiere, dabei sind auch 64 Prozent aller einheimischen Haustierrassen gefährdet“, sagt Andreas M. Casdorff, Vorstandsmitglied des Zooverbandes und Geschäftsführer des Erlebnis-Zoos Hannover. „Und wenn wir Zoos mit unserem wertvollen Tierbestand und unserer Expertise nicht dazu prädestiniert sind, das Verschwinden dieser biologischen Vielfalt aufzuhalten, wer dann?“ Beim vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft geförderten Projekt soll die  wissenschaftliche Erhaltungszucht optimiert, die bedrohten Tiere stärker als bisher nachgezüchtet werden. Außerdem soll das Thema des Aussterbens einheimischer Nutztiere fest in den Unterrichtsangeboten der Zooschulen verankert und ein jährliches Fachsymposium etabliert werden. Mit Agrarwissenschaftlerin Dr. Julia Drews wurde eigens eine verantwortliche Projektkoordinatorin eingestellt. Das Projekt ist zunächst auf drei Jahre angelegt.

Im Zoo Hannover werden seit letztem Jahr auch Bunte Bentheimer Schwein gehalten. Diese Tiere stammen aus dem Tierpark Nordhorn. Der drittgrößte Zoo in Niedersachsen, gelegen in der gleichnamigen Grafschaft Bentheim, hat sich der Zucht dieser alten und bedrohten Nutztierrasse verschrieben. 2003 wurde im Tierpark sogar der „Verein zur Erhaltung der Bunten Bentheimer Schweine e. V.“ gegründet um der fast ausgestorbenen Schweinerasse eine neue Zukunft zu geben. Tatsächlich wurden in den 1990er Jahren die letzten Tiere nur noch von einem einzigen Züchter gehalten.

Als von der GEH (Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen e.V.) anerkannter Archepark widmet sich der Tierpark Nordhorn wie kaum ein anderer Zoo dem Erhalt bedrohter Haustiere. In seiner historischen Themenwelt „Vechtehof“ werden neben den Bunten Bentheimer Schweinen viele verschiedene bedrohte Rassen gehalten. „Artenschutz fängt vor unserer Haustüre an!“ so Zoodirektor Dr. Nils Kramer. „Wir begrüßen das nun gestartete Projekt des Zooverbandes außerordentlich, da es den Wert der Arterhaltung dieser heimischen Tierarten endlich hervorhebt und eine gemeinsame Stoßrichtung entwickelt werden kann!“ Der Tierpark Nordhorn ist stolz, dass er in der Erhaltungszucht bedrohter Haustierrassen eine anerkannte Vorreiterrolle in der Zoowelt einnimmt und eine einzigartige Verbindung aus Erhaltungszucht, dem Aufzeigen von Nutzungswegen für Haustierrassen und dem praktischen Naturschutz in über 170 Hektar schützenswerter Naturräume einnimmt. „Zusammen mit anderen starken Partnern in der Zoowelt können wir diesem wichtigen Thema weiteres Gehör verschaffen!“ so Kramer abschließend.

Warum ist die Bewahrung des Schwarzbunten Niederungsrinds, der Thüringer Waldziege oder des Leicoma-Schweins überhaupt wichtig? „Alte Nutztierrassen sind genügsam, wetterhart und habe eine bessere Immunabwehr als klassische Hochleistungsrassen. Deswegen sind sie in der Lage, bei der extensiven Weidehaltung, also einer nachhaltigen und schonenden Form der Bewirtschaftung, eine Schlüsselposition einzunehmen“, sagt Prof. Dr. Dr Kai Frölich, Direktor von Europas größtem Zentrum für alte Haus- und Nutztierrassen, dem Tierpark Arche Warder. „Fast alle Experten sind sich einig, dass eine Transformation der derzeitigen Produktionsverfahren in der Landwirtschaft notwendig ist. Nur wie diese verlaufen soll und in welcher Geschwindigkeit sie vollzogen werden muss, wird kontrovers diskutiert. Die Nutzung alter Rassen auf Teilflächen kann dabei durch extensive Bewirtschaftung zum Erhalt der Biodiversität und Ökosystemleistung beitragen.“ Kai Frölich, seit vielen Jahren im Verband der Zoologischen Gärten aktiv, ergänzt: „Unsere alten Rassen sind an bestimmte Standorte angepasst und somit auch kulturhistorisches Erbe ihrer jeweiligen Region. Diese robusten Tiere durchgängig auf extensiv genutzten Weiden zu halten ist sinnvoll, da sie auch mit energiearmen Futter zurechtkommen und somit zur nachhaltigen Pflege von Kulturlandschaften beitragen. Letztlich sind die alten Rassen auch eine Antwort auf künftige Herausforderungen: Durch ihre größere genetische Variabilität können sie besser auf Veränderungen in puncto Klima oder Produktion reagieren.“

Die Situation im Tierpark Nordhorn
Was nun langsam über die Verbandsarbeit in allen renommierten Zoos und Tierpark ankommt, ist im Familienzoo in der Grafschaft Bentheim bereits seit vielen Jahre gelebte Tradition! „Bei uns im Park ist `Erhalten durch Aufessen´ schon lange ein Thema, denn was auf den ersten flüchtigen Blick dem einen oder anderen widersprüchlich erscheinen mag, ist bei differenzierter Betrachtung in einer immer bedrängteren Umwelt die einzige Chance bestimmter bedrohter Arten auf ein dauerhaftes Überleben!“ so Nordhorns Zoodirektor Dr. Nils Kramer. Dabei ist „Erhalten durch Aufessen“ natürlich nur ein Aspekt des allgemeiner gefassten Grundsatzes „Erhalten durch Nutzen“. Im Tierpark Nordhorn wird an verschiedenen Stellen versucht, diese Zusammenhänge zu vermitteln. Prominentestes Beispiel ist wohl die parkinterne Vermarktung des heimlichen Wappentieres der Grafschaft Bentheim, dem Bunten Bentheimer Landschwein. Dieses ganz besondere Schwein wurde in Nordwestdeutschland gezüchtet und als eigene Rasse definiert. Über Jahre war es begehrter Fleisch- und Energielieferant. Mit dem geänderten Verbraucherverhalten nach dem Krieg begann der Niedergang dieser Art. Andere Schweinerassen waren in den sich ändernden Haltungsformen wirtschaftlicher zu halten. Auch war ein hoher Fettanteil im Fleisch nicht mehr gefragt. Die Schweine verschwanden in der Zeit des Wirtschaftswunders recht schnell von den Höfen und standen kurz vor dem Aussterben. Auf dem Hof Schulte-Bernd in Isterberg lebten in den 1990ern letztendlich die letzten Tiere dieser Rasse. Diesem Engagement ist der Erhalt der Rasse zu verdanken. Heute gibt es dank eines vielfältigen Einsatzes wieder eine stabile Zuchtbasis von rund 400 Herdbuchsauen. Gerade mit der qualitativen Regionalvermarktung hat das Bentheimer Schwein seine berechtigte Nische gefunden. Die Erweiterung des Tierparks und die Einrichtung des Vechtehofes bot eine ganz neue Perspektive für die Bentheimer Schweine. Dabei war das Konzept des Tierparks von Anfang an nicht nur auf die reine Tierpräsentation ausgelegt. Natürlich sollte den Besuchern die regionale Schweinerasse nähergebracht werden, aber um die Arterhaltung wirklich zu unterstützen, mussten mehr als nur ein paar „Schau“-Schweine gehalten werden. Der Nutzen bei Schweinen liegt auf der Hand – Aufessen. Durch diese Nutzung ergibt sich ein Bedarf an Nachzuchten, wodurch sich die Zahl gehaltener und gezüchteter Schweine und damit auch die genetische Vielfalt erhöht. Hierdurch entsteht eine Perspektive für diese Rasse.

Für den Tierpark Nordhorn bot es sich natürlich an, die zooeigene Gastronomie mit in diese Verwertungskette zu integrieren. Zusammen mit regionalen Fleischern wurde das „Flaggschiff“ der Vermarktung, die Bratwurst vom Bunten Bentheimer kreiert. In den ersten Jahren wurde der ganz überwiegende Teil des Umsatzes im Konzept nur mit diesem Produkt gemacht. Der Bedarf war so groß, dass der Tierpark von verschiedenen Haltern Bentheimer Schweine zukaufen musste. Hierzu trugen natürlich die stetig steigenden Besucherzahlen bei. Zunehmend konnte die regionale Vermarktung auch auf andere Tierarten wie das Bentheimer Landschaf und das Hutewaldrind ausgeweitet werden. Die Vielfalt der hochwertigen Speisen und die Qualität für den Kunden wächst dabei kontinuierlich. Zur Wahrheit gehört aber natürlich auch, dass die Vermarktung dieser hochwertigen regionalen Produkte höhere Produktionskosten und damit zwangsläufig auch einen höheren Endpreis für den Kunden hat. Unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten könnte man im Massengeschäft wie dem unsrigen mit preiswerten Produkten sicherlich einen niedrigeren Wareneinsatz erzielen, der Ansatz des Tierpark Nordhorn ist hingegen ganzheitlicher Natur. Neben der Wirtschaftlichkeit, die natürlich gegeben sein muss, zählen edukative Aspekte, die Bewerbung regionaler Warenkreisläufe und der Einsatz für das Überleben des Bunten Bentheimer Schweines im Vordergrund.

Schlussendlich wird der Besucher im Tierpark Nordhorn von den kleinen Ferkeln im Ferkelstreichelzoo bis zum leckeren Burger in der zooeigenen Gastronomie für den Erhalt der  Bunten Bentheimer Schweine begeistert. Eine echte WinWinSituation.

Über das Projekt
Die Förderung des Vorhabens erfolgt aus Mitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages. Die  Projektträgerschaft erfolgt über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE).